Gemeinsam
gegen den Schlick

Gemeinsam
gegen den Schlick

Wirksames Werkzeug
gegen die Trübung

Die Flexible Tidesteuerung mit dem Emssperrwerk ist ein wirksames Werkzeug gegen den Schlick in der Ems. Und das Sperrwerk ist dem dann täglichen Einsatz technisch und statisch gewachsen. Das haben die Ergebnisse des Testlaufs im Sommer 2020 auch nach intensiver und akribischer Überprüfung durch Experten bewiesen

Das wirft in der Region eine Frage auf: Warum kommt sie dann nicht sofort zum Einsatz? Darauf gibt es zwei Antworten – eine einfache und eine komplexe. Die einfache: Das Emsperrwerk schließt bei Sturmfluten und zum Emsaufstau für Überführungen der Meyer Werft. Dafür wurde es gebaut, für andere Zwecke gibt es zurzeit schlicht keine Genehmigung. Die komplexere Antwort betrifft den Weg, wie man zu einer solchen Genehmigung kommt: Bevor ein so entscheidender Eingriff in ein Flusssystem wie eine technische Steuerung der Tiden erfolgen kann, müssen alle zu erwartenden Auswirkungen in einem Planfeststellungsverfahren aufgelistet, beschrieben und abgewogen werden – möglichst so, dass der darauf basierende Beschluss am Ende auch juristischen Überprüfungen durch jene standhält, die sich in ihren Belangen eingeschränkt sehen. Die Komplexität ergibt sich aus den vielen Rollen, welche die Ems in der und für die Region spielt: Sie ist nicht nur ein kostbarer und einzigartiger sowie hoch gefährdeter Naturraum, sie ist auch Verkehrsweg, Überführungsgewässer für Neubauten der Meyer Werft, sie entwässert über die Nebengewässer und die von Menschen geschaffenen Kanäle und Tiefs die gesamte Region, bindet die Häfen an das Meer und andere Wasserwege an – und einiges gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Niederlande, die zudem besonders aufmerksam auf mögliche Folgen für den Dollart schauen. 

Bedeutet: Die Ems bedient viele Ansprüche und Interessen. Selbst die belegten positiven Wirkungen auf die Verschlickung und die zu erwartende Verbesserungen für alle Lebewesen im Fluss – all das entbindet die Planerinnen und Planer nicht davon, auch alle anderen Folgen des Eingriffs zu beleuchten, bevor ein Start der Tidesteuerung möglich ist. Für Probleme und Einschränkungen, die die Tidesteuerung für heutige Nutzungen der Ems mit sich bringt, müssen Lösungen gefunden werden. Das folgt auch den Zielen des Masterplans: Neben der Lösung des Schlickproblems und der Wiederherstellung typischer Lebensräume haben die Vertragspartner auch vereinbart, die Leistungsfähigkeit der Bundeswasserstraße Ems ebenso zu erhalten wie die Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung der Region und nicht zuletzt die Überführungssicherheit für die Neubauten der Meyer Werft.

 Viel Arbeit also – aber die fußt auf der erfreulichen Tatsache, dass man nun mit der Tidesteuerung über das Instrument verfügt, mit dem man dem verschlicktem Flusssystem Ems als Lebensraum wieder auf die Beine helfen kann. In Zeiten des Artensterbens ist der Lebensraum Unterems mit seinen ganz speziellen Bedingungen (Gezeiten, Brackwasserzone, Verbindung zwischen Meer und Binnengewässern) unverzichtbar. Allein deshalb lohnt sich der steinige Weg bis zur Umsetzung. Zudem verfügen die Planerinnen und Planer über zwei Varianten, um das große Ziel zu erreichen; Tideniedrigwasseranhebung und Flutstromsteuerung. Sie unterscheiden sich deutlich. Dennoch vermindern beide die Schlickbelastung. Wie kann das sein? Um das zu verstehen, lohnt ein näherer Blick auf den Zustand der Ems. In ihrem Bett befindet sich vor allem im Sommer – weil dann weniger Wasser aus dem Binnenland für den Stromabtransport von Feststoffen sorgt als im Winter – oberhalb von Weener sehr trübes Wasser.

Je tiefer man in den Wasserkörper abtaucht, desto höher wird die Schwebstoffkonzentration, desto „dicker“ wird die Flüssigkeit, die dann als Flüssigschlick bezeichnet wird. Dieser fließt nicht im Gezeitenrhythmus, sondern bewegt sich allenfalls träge über dem festen Grund und verdrängt die Gezeitenströmung in den oberen Bereich der Wassersäule. Die organischen Anteile werden von Bakterien zersetzt, dabei wird der Sauerstoff im Wasser teilweise vollständig verbraucht – die Umgebung wird lebensfeindlich. Im oberen Teil der Wassersäule fehlt zudem sauerstoffbildenden Algen das Licht, um Photosynthese zu betreiben. Zudem schlicken Muhden, Nebenarme und Flachwasserzonen zu. 

Schon lange war bekannt, dass die hohe Schwebstoffbelastung vor allem mit dem durch Vertiefungen und Begradigungen entstandenen Ungleichgewicht zwischen Ebbe und Flut zusammenhängt. Der Tidenstrom fand kaum noch Widerstand im Flussbett und die Flutstromdauer hat abgenommen, zudem wuchs die Wassermenge, die mit der Flut in die schmale Ems drängte. Damit gerieten auch mehr Schwebstoffe in den Fluss, welche die vergleichsweise schwache Ebbe nicht wieder herausbekam. So entstand über Jahre eine so hohe Belastung, dass über weite Strecken die Flüssigschlickschicht entstand. 

Untersuchungen der Forschungsstelle Küste mit einem als Weltpremiere geltenden Programm, das das Verhalten von Flüssigschlick simulieren kann, bestätigten, dass der Flutstrom mit seiner Wucht aus dieser Flüssigschlickschicht große Mengen an Sediment aufwirbelt, Richtung Oberfläche und weiter stromauf transportiert. Gleichzeitig bewegte sich die Grenze zwischen Süß- und Salzwasser immer weiter stromauf. Diese Erkenntnisse machten deutlich, dass eine Lösung des Schlickproblems auf die Behebung des Tidenungleichgewichts setzen musste – also den Flutstrom schwächen und die Ebbe stärken muss. Auf dieser Grundlage kam eine technische Lösung ins Spiel: Eine Regulierung der Asymmetrie zwischen Ebbe und Flut mit den Toren des Emssperrwerks. Dafür sind zwei Varianten im Spiel. 

Wie funktioniert die Tideniedrigwasseranhebung? 

Die Tore des Sperrwerks schließen während des ablaufenden Wassers komplett, und das rund zwei Stunden vor Niedrigwasser. Der Niedrigwasserpegel fällt dadurch oberhalb des Emssperrwerks nicht „normal“ ab, sondern bleibt rund einen bis eineinhalb Meter höher. Stromab vom Sperrwerk läuft das Wasser im normalen Tideverlauf weiter ab und steigt in der danach einsetzenden Flut wieder an. Bei gleichem Wasserstand auf beiden Seiten des Sperrwerks werden die Tore wieder geöffnet. Während der Schließzeit geht die Strömungsintensität zwischen Sperrwerk und Tidewehr Herbrum stark zurück. Die im Wasser gelösten Feinsedimente setzen sich ab. Sehr schnell wird dadurch die Trübung in der oberen Wassersäule reduziert. Sobald der Schlickanteil deutlich fällt, steigt der Sauerstoffgehalt ebenso deutlich. In der für die Ems typischen, aber nicht gewollten, Flüssigschlickschicht sinken die Schwebstoffe zu Boden und nehmen nicht mehr am Transportgeschehen teil. Wenn die Tore nach dieser rund zweieinhalbstündigen Ruhephase wieder geöffnet werden, entwickelt sich der Flutstrom in geringerem Umfang, weil ein Teil des sonst bei Flut einströmenden Wasservolumens sich bereits in der Unterems befindet. Das Ergebnis: Der Schwebstoffgehalt sinkt deutlich, der Sauerstoffgehalt steigt deutlich, Salzgehalte gehen zurück. Die Schwebstoffe sinken zu Boden oder werden zu einem geringen Teil auch stromab transportiert und aus dem System geräumt. Die Tideniedrigwasseranhebung soll daher später einmal direkt nach dem Winter starten, wenn das System durch die hohen Wassermengen aus dem Binnenland während der kalten Jahreszeit wenig Flüssigschlick enthält, und so die Unterems über den Sommer in diesem Zustand erhalten. Die Unterhaltungsbaggerungen können effektiver erfolgen, weil die Sedimente am Boden kompakter sind. Langfristig nehmen Baggerdauer und Baggermenge ab. 

Und die Flutstromsteuerung? 

Dabei werden die Tore bei Einsetzen der Flut teilweise geschlossen; die Hauptschifffahrtsöffnung komplett und die Nebenöffnungen bis auf unterschiedlich große Spalte unterhalb der Tore. Durch die Einengung wird der Flutstrom großräumig gebremst. Wegen der lokal in der Nähe des Sperrwerks entstehenden höheren Fließgeschwindigkeiten ist für eine dauerhaft betriebene Flutstromsteuerung - anders als bei der Tideniedrigwasseranhebung - die Erweiterung der Sohlsicherung erforderlich. Daher wurde diese Variante während des Technischen Tests nur kurz ausprobiert. Die für eine Flutstromsteuerung nötige Sohlsicherung durch Steinschüttungen am Emsgrund kann den Erkenntnissen zufolge erheblich kleiner ausfallen kann als zunächst erwartet, statt über 300.000 Quadratmeter voraussichtlich unter 100.000. Das bedeutet einen geringeren Eingriff in die Ems und eine deutliche Kostenreduzierung. Die Flutromsteuerung könnte dafür sorgen, dass bei gesteuerten Tiden Schwebstoffe aus der Unterems heraustransportiert werden. Das wird dadurch erreicht, dass der heute intensive Flutstrom geschwächt, die Ebbströmung aber leicht gestärkt wird – und damit unterm Strich der Ebbtransport die Oberhand gewinnt. Dadurch wird die Menge des Materials, aus der sich der sauerstoffzehrende Flüssigschlick bildet, in der Unterems längerfristig verringert. Die positive Wirkung auf die Gewässergüte stellt sich verglichen zur Tideniedrigwasseranhebung später ein. Das Sediment sammelt sich vorrangig im Emder Fahrwasser und würde dort von Baggern entfernt. 

 

Wie es jetzt weitergeht

Die Federführung für das Vorhaben liegt beim Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) in enger Zusammenarbeit mit dem Wasserstraßenund Schifffahrtsamt (WSA) Ems-Nordsee. Die Fäden laufen beim Auricher NLWKN-Betriebsstellenleiter Dirk Post und seinem Team zusammen. 

Welche Fragen werden derzeit bearbeitet? 

Der technische Test hat ein Ergebnis gehabt, das nicht nur in der von Andreas Wurpts geleiteten Forschungsstelle Küste des NLWKN für Freude gesorgt hat. Das Programm zur Modellierung des Verhaltens von Flüssigschlick, das er gemeinsam mit Dr. Dennis Oberrecht entwickelt hatte, war nicht nur weltweit ein Novum. Die Messungen während des Tests bestätigten die Voraussagen des Programms. Das heißt, dass es nun bei Berechnungen der Langzeitwirkungen der Tidesteuerungsvarianten belastbare und gültige Ergebnisse liefern wird. Die Rechner in der Forschungsstelle wurden von den Wissenschaftlern mit tausenden beim Test ermittelten Daten „gefüttert“ und laufen nun im Dauerbetrieb, um die für die weitere Planung erforderlichen Ergebnisse zu liefern. Das ist nicht nur erfreulich, sondern auch notwendig. Da die Tidesteuerung weltweit erstmals zum Einsatz kommen wird, kann nicht auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden. Dass der Praxistest für das Flüssigschlickprogramm positiv ausfiel, ist daher ein wichtiger Baustein für die Umsetzung des Großprojekts. 

Tidesteuerung und Schifffahrt 

Bereits seit 2017 besteht unter der Leitung des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts (WSA) Ems-Nordsee ein Arbeitskreis, in dem Schifffahrt, Hafenbetreiber und hafenaffine Unternehmen ihre spezifischen Probleme und Bedürfnisse in Sachen Tidesteuerung ins Verfahren einspeisen. Geleitet wird er von Amtsleiter Hermann Poppen und seinem Stellvertreter Günther Rohe. Ziel ist die so genannte „Verkehrsverträgliche Tidesteuerung“, die u.a. von Markus Jänen entwickelt wird. Im Mittelpunkt stehen dabei stets die Auswirkung der Sperrzeiten des Sperrwerks auf Schiffsverkehr, Logistikketten und Umschlag. Aufgrund der Diskussion in mittlerweile sechs Treffen wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das Unternehmen Nautitec aus Leer berechnet die Auswirkungen verschiedener Steuerungsmodelle und Frequenzen auf der Grundlage der Ems- Verkehrsdaten zwischen Eemshaven und Dörpen aus dem Jahr 2019, dem letzten regulären Verkehrsjahr vor der Pandemie, und errechnet so die Betroffenheiten und daraus resultierende Lösungsansätze. Der Hintergrund: Während der Sperrzeiten ist ein Passieren des Sperrwerks für Schiffe nicht möglich. Bei der Tideniedrigwasseranhebung ist das Emssperrwerk für drei bis vier Stunden rund um Niedrigwasser geschlossen, bei der Flutstromsteuerung für etwa vier Stunden während des Flutstroms. Dabei hat die Ems als Wasserstraße an Bedeutung gewonnen: Die Trockenheit im Sommer 2022 hat dazu geführt, dass Binnenschiffe mit Gütern aus den Seehäfen der Niederlande die Ems als Alternativroute zum Rhein nutzen und so ins deutsche Kanalnetz navigieren. Die niedersächsische Landeshafengesellschaft NPorts hat in einem weiteren Gutachten technische Lösungen entwickeln lassen, mit denen Einschränkungen für den Autoumschlag begegnet werden kann, die bei der Tideniedrigwasseranhebung während des Tests aufgetreten sind. Grund war der schnelle Absunk des Wasserstands nach der Torsperrung. Eine mögliche Problemlösung könnte der zügige Bau des seit langem geplanten Großschiffsliegeplatzes in Emden sein. Hierzu könnte der bestehende noch zu modifizierende Planfeststellungsbeschluss genutzt werden. Ein entsprechendes Genehmigungsverfahren wäre zu führen. In den weiteren Prozess werden auch die beteiligten Akteure vor Ort, wie z.B. die Hafenwirtschaft, einbezogen. Zudem muss auch nach Einführung der Tidesteuerung die Überführungssicherheit für die Neubauten der Meyer Werft gesichert bleiben. 

Tidesteuerung und Binnenentwässerung 

Der NLWKN hat unterdessen mehrere Gesprächsrunden mit den Entwässerungsverbänden beiderseits der Unterems geführt. Dirk Post und der Gewässerkundler Andreas Engels, der auch den Monitoringbericht des technischen Tests geschrieben hat, unterrichteten die Vertreter der Verbände an der Unterems und im Leda-Jümme- Gebiet, die betonten, dass sie die Bemühungen, den Zustand der Ems zu verbessern, im Grundsatz positiv betrachten und mittragen. Dennoch stand die Frage der Verbände im Raum, wie die Entwässerung des Binnenlandes trotz der Anhebung des Niedrigwassers in der betreffenden Variante auch künftig gesichert bleibt. Höhere Wasserstände verkürzen bei einigen Sielen die Zeit der Entwässerung über Sieltore und erhöhen die nötigen Pumpzeiten und damit die Kosten. Das gelte auch für die Beseitigung möglicher Schlickablagerungen in den Außenmuhden der Schöpfwerke, vor allem unterhalb des Sperrwerks. Ein Ausgleich müsse thematisiert werden. Zum Technischen Test hieß es seitens der Verbände, dass man „positiv überrascht“ über die geringen Auswirkungen auf die Entwässerung gewesen sei. Die Frage sei, ob das auf den Winter zu übertragen sei. Allerdings soll die Tidesteuerung im Winter nur dann eingesetzt werden, wenn die Ems nicht durch den dann üblichen hohen Zufluss aus dem Binnenland ohnehin in gutem Zustand ist. Zudem wird die Steuerung bei hohem Sielbedarf ausgesetzt.